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Afghanistan-Blog #4: Dur-I-Nur, Tal des Lichts

Bei Frühstück in Jalalabad gibt es einige Mullahwitze, aus dem Munde eines paschtunischen
Afghanen. Zum Beispiel: Ein Mullah fällt ins Wasser, ist am Ertrinken, da eilt ein Mann zu Hilfe und ruft: „Gib mir deine Hand, gib mir deine Hand!“ Doch der Mullah ergreift die Hand nicht und ertrinkt. Der erfolglose Retter erzählt die Geschichte im Dorf. Dort sagt man ihm: „Nicht GIB mir die Hand hättest du rufen sollen, sondern NIMM meine Hand!

Was damit gemeint ist, erschließt spätestens dieser Witz: Man hat noch nicht gesehen, dass ein Wurm (Mur) Augen hat. Man hat noch nicht gesehen, dass eine Schlange (Maar) Füsse hat. Und man hat noch nicht gesehen, dass ein Geistlicher (Mullah) jemand etwas gegeben hätte.

Auch anzügliche Witze gibt es: Ein Mullah hat einen sehr schönen Schüler und schließt daraus auf die Schönheit der Mutter. Er lässt den Schüler der Mutter Grüße bestellen und er solle zu ihr sagen „ehe ehe“, worunter man sich wohl ein anzügliches Räuspern vorzustellen hat. Die Mutter jedenfalls erkennt das Interesse des Mullahs an einem Stelldichein und lässt ebenfalls Grüße und ein „ehe ehe“ bestellen. Der Mullah fühlt sich verstanden und so wechseln noch einige „ehe ehe“ hin und her. Schließlich kommt es zu einer Einladung, der Mullah trifft die schöne aber verschleierte Frau im Hof ihres Hauses, bevor es jedoch in die Gemächer geht, deutet sie mit vielsagendem Blick auf einige Getreidesäcke, die auf den Speicher müssen. Der verliebte Mullah stemmt die Säcke bis zur Erschöpfung hinauf und schläft dann auf dem letzten Sack ein. Am nächsten Tag lässt ihm die Frau wieder ein „ehe ehe“ bestellen, doch er winkt dem Boten ab: „Ich kann nicht schon wieder Säcke schleppen!“


Auf dem Land um Jalalabad sind die Häuser der Afghanen Burgen. Ein fensterloses rund vier Meter hohes Mauerkarree ist das erste, was überhaupt gebaut wird, je nach Größe der Familie unterschiedlich groß, von 25 bis 70 Meter Kantenlänge. Dann geht man an die Inneneinrichtung: Die Wohn- und Lagerräume, Viehställe und, wenn an der Hauptstraße gelegen, vielleicht ein Laden außen. Diese Karees liegen jeweils inmitten der Felder der Familie, manchmal auch direkt gegenüber dem Nachbarkaree, wie Kasernen feindlicher Armeen. Was beim Engländer nur noch Ausdruck eines privaten Reviers ist, gilt in Afghanistan buchstäblich: My Home Is My Castle. Viele Karees haben Wachtürme und Schießscharten und das nicht nur zur Zierde.

Die afghanische Gesellschaft wird gerne als mittelalterlich bezeichnet, aber diese Karees erinnern eher an Wehrdörfer, wie sie bei den Germanen um die Zeitenwende beschrieben werden. Die Großfamilie hinter Wall und Mauer, immer mit Angriffen und Überfällen rechnend, die nur zum Teil auf großpolitische Ereignisse zurückgehen, zum anderen Teil auf Räuberbanden und – Nachbarn. Kein Verlass auf eine Ordnungsmacht, die schützt, das muss man schon selbst besorgen. Als wir nach Dari Nur aufbrechen, bringt Norbert Burger die Nachricht mit, dass in der Nähe gekämpft wird, allerdings jenseits der pakistanischen Grenze, was unsere Planung nicht betrifft. Keine Taliban, keine Widerständler, keine irgendwie großpolitisch motivierte Auseinandersetzung sei dort im Gange, sondern schlicht eine Schießerei zwischen zwei Stämmen. Um Wasser, Vieh, Grund und Boden oder um alte und neue Beleidigungen, wir erfahren es nicht. Die Kämpfe hätten genauso gut in Afghanistan stattfinden können, die Grenze läuft ohnehin willkürlich kolonial festgelegt durch das Stammesgebiet der Paschtunen. Aber auch die Stämme als Großeinheiten halten hier nicht unbedingt zusammen, die eigentliche Einheit auf dem Land ist der Clan, die Großfamilie mit durchaus mehreren Hundert oder Tausend Mitgliedern, die sich meist auf eines oder auch mehrere benachbarte Dörfer konzentrieren. So hat Gesellschaft auch schon vor 5.000 oder 30.000 Jahren funktioniert.

Noch nicht einmal diese Größenordnung funktioniert zuverlässig. An unserer ersten Station erfahren wir vom Ortsvorsteher, dass es erst vor ein paar Tagen ein Zusammentreffen verschiedener Ortsvorsteher aus der Gegend gegeben hat, weil man sich Gedanken über ein bestimmtes Tal in der Nähe macht. Dort bekriegen sich 500 Familien permanent. Sie können kaum das Haus verlassen, weil sie befürchten müssten, von den Nachbarn erschossen zu werden. Ursache ist sei ein Konglomerat aus Blutrachen, die angeblich vor allem auf Streitigkeiten wegen Frauen zurückgehen. In diesem Tal würden die Frauen alle Feldarbeit machen, was reichlich ungewöhnlich ist für dieses Land, wo die Frauen normalerweise vor allem die Arbeit im Haus erledigen und draußen fast unsichtbar sind. In diesem Tal seien sie aber eben sichtbar, würden von anderen Männern begehrt als ihren eigenen und das führe zu Morden, diese zu Blutrache, diese zur ewigen Familienfehde.

Erzählt und bestätigt wird dies von den Männern auch des nächsten Dorfes. Ob dies bei ihnen ebenfalls passieren könne? Aber nein, antworten sie, wir halten unsere Frauen ja im Haus. Ob es überhaupt Beleidigungen bei ihnen gebe, die nur mit Blut abgewaschen werden könnten? Nein, dafür hätten sie andere Mittel der Auseinandersetzung und Abgeltung, zum Beispiel den Ortsrat, die Schura. Nun muss man wissen, dass die Einwohner des Dar-I-Nur keine typischen Paschtunen sind. Hier gibt es griechische Nasen, rote Haare und auf den Friedhöfen stehen Grabsteine, die einen stilisierten Pferdekopf darstellen. Gut möglich, dass es sich hier um Nachfahren der Griechen handelt, die von Alexander des Großen Feldzug übriggeblieben sind. Nicht nur waren diese sicherlich mit Pferden unterwegs, Alexander bedeutet zudem übersetzt „Pferdefreund“. Die Bewohner des Dari Nur jedenfalls beziehen sich auf diese Geschichte und nennen sich die „Griechen“. Sie gelten als weniger aggressiv, fleißiger und konstruktiver als die in der Provinz Nangarhar vorherrschenden Paschtunen. Wo das Gebiet der „Griechen“ beginnt, weichen die Wehrdörfer wieder den eher pueblohaften, verschachtelten Häuserkomplexen, die an den zunehmend steileren Berghängen kleben.

Wo immer Wasser fließt, wurden Felder terrassiert, die Mais, Weizen und Klee tragen, letzteren als natürlich düngende Zwischensaat und Viehfutter für die mageren Kühe. Auch Gemüse, Nuss- und Maulbeerbäume und sogar einige Orangen werden kultiviert. In den Terrassen und dem Bewässerungssystem aus vielen Kanälen erkennt man eine Jahrhunderte dauernde, kontinuierliche Aufbauarbeit, die durch so einen unglückliche Brauch wie die Blutrache sicherlich gelitten hätte. Friedvolle Engel allerdings sind die „Griechen“ auch nicht. Ganz oben im Tal liegen drei Dörfer, zu denen noch immer keine befahrbare Straße führt. Was immer sie brauchten oder verkaufen wollten, musste zu Fuß bis dahin gebracht werden, wo die Straße bisher endete. Diese Dörfer entschieden im Rahmen des demokratiefördernden Projektes NSP (National Solidarity Pakt) dafür, endlich die seit Jahrhunderten vermisste Straße zu bauen. Sie legten praktisch all ihr eigenes Geld zusammen und erhielten im Rahmen des Programmes eine ordentliche Förderung. Davon waren die Dörfler am bisherigen Ende der Straße wenig begeistert und protestierten sogar, denn sie hatten die Läden und Lager, in denen die oberen Nachbardörfer kaufen und verkaufen mussten, wollten ihre Bewohner nicht einen Tagesmarsch ins Tal machen. Für die Bewohner des Dari Nur spricht, dass dieser Konflikt unblutig beigelegt werden konnte.

Für sie spricht auch, dass die Welthungerhilfe sie überreden konnte, es mit Rosen als Alternative zu Opium zu versuchen. Rosen wurden in Afghanistan immer nur als Zierpflanze im privaten Garten gezogen, nie kommerziell angebaut und schon gar nicht zur Gewinnung von Rosenöl. Ein großer Schritt in einer bäuerlichen Kultur, die Wissen nicht als rationales, hinterfragbares Werkzeug sondern als unwandelbaren Brauch oder seines ursprüngliche Zweckes entkleideten Glaubensritus weitergibt. 2004 haben die ersten Bauern unter Anleitung von Norbert Burger und seinem afghanischen Vertreter Mohmand mit dem Anbau von Rosen begonnen. Heute sind es 266 Bauern, verteilt auf drei Distrikte in Nangarhar.

Obwohl die Absatzchancen gut sind, wird die Ausweitung des Rosenanbaus von der rasanten Steigerung der Lebensmittelpreise in Frage gestellt. Nicht, weil die Bauern den Weizen und Mais gewinnbringender verkaufen könnten als die Rosen, sondern ihr Getreide noch nicht einmal für den eigenen Bedarf reicht. Vom Erlös des Rosenöls aber können sie sich die immer teureren Lebensmittel immer weniger leisten. Eine Chance besteht darin, dass die Bauern des Dari Nur noch lange nicht das Optimum aus ihren Rosenfeldern herausholen. Nicht nur dass die Rosen selbst erst ab dem vierten Jahr voll tragen, viele Bauern sind noch nicht so effektiv in der Kultivierung und der Ernte, dass sie den möglichen Ertrag wirklich ausschöpfen.

Auch steigt der Preis für biologisches Rosenöl wegen des wachsenden Bedarfs noch an. Aber ob dies von Dauer sein wird, muss man bezweifeln. Gerade wegen den steigenden Preisen entdecken auch andere Regionen der Welt den Rosenanbau für sich. Darunter landwirtschaftlich so leistungsfähige Länder wie Südafrika. Vielleicht können die Afghanen ihre sonst so hinderliche Gebirgslage für sich ins Feld führen. Denn je höher die Rosen angebaut werden, desto höher ist ihr Gehalt an Rosenöl.

Ich besteige mit einer Kollegin für die Rückfahrt das andere Auto, in dem kein Mitarbeiter der Welthungerhilfe sondern nur Paschtunen mitfahren. Selbstverständlich dürfen wir aus den Fenstern fotografieren, in den Dörfern und in Jalalabad. Die „Opfer“ lachen und einige bedanken sich sogar. Durch unsere offenen Fenster winken wir und werden zurückgegrüßt. Selbstverständlich darf die Kollegin einen Laden betreten, um Filme kaufen. Unsere Begleiter sind ganz entspannt, das Straßenvolk neugierig aber nicht aufdringlicher als in anderen armen Städten dieser Welt auch. Ein Junge wedelt aus einem Räuchertopf irgendeinen gutgemeinten Gestank ins Auto, natürlich in Erwartung einer Bezahlung. Meine Abwehr ignoriert er ebenso wie die des Fahrers, ich drehe ihm das Fenster vor der Nase zu. Ein schöner Anlass, uns zu beschimpfen oder ans Auto zu schlagen. Stattdessen ruft der etwa Zehnjährige dem Publikum lachend zu, wir seien wohl Amerikaner und erstaunlicher Weise wollten wir seinen Wohlgeruch nicht haben. Kein Ärger, nur Verwunderung.

Was ich davon halten soll, weiß ich noch nicht. Mir scheint, dass die Mitarbeiter der Welthungerhilfe ihre Unbefangenheit gegenüber den Einheimischen ein wenig verloren haben. Dafür gibt es genügend Anlässe, das ist keine Frage. Die Lockerheit unserer paschtunischen Begleiter kann auch fahrlässig oder fatalistisch sein und vielleicht schrammen wir dichter an einem Unglück vorbei als wir ahnen. Jedenfalls tritt es erst mal nicht ein und ich neige dazu, mich den Einheimischen anzuvertrauen statt sie beständig misstrauisch auf Distanz zu halten. Es könnte sein, dass diese Distanz ihre eigenen Gefahren heraufbeschwört. Wenn man den Erzählungen Glauben schenken darf, dann sind die Mitarbeiter der Welthungerhilfe immer noch sehr viel näher an der Bevölkerung dran als jegliches ausländische Militär und auch die UN. Deren Sicherheitsprinzipien führen zur weitgehenden Isolation von der Bevölkerung und jede falsche Bewegung kann Schüsse auslösen. Auf beiden Seiten, wie schon von den Amerikanern erzählt.

In Jalalabad soll es am Abend eine größere Explosion in der Nähe des Flughafens gegeben haben, aber Details sind nicht bekannt. Ich vergesse die Nachricht sofort wieder. Irgendwie ist das weit weg.

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